Sozialer Krieg in Frankreich

« Wer wundert sich noch ? »1

Seit ungefähr einem Monat lodern die Banlieues von Paris wieder auf. Außergewöhnlich ist das nicht wirklich. Vor allem kracht es, wenn es darum geht, Gestorbene oder Verwundete zu rächen und ihrer zu gedenken. Manche erinnern sich vielleicht an die Aufstände der 90er Jahre, oder von 2005 und 2007, die damals auch große Aufmerksamkeit bei den bürgerlichen Medien in ganz Europa erregt haben.

«Erste, zweite, dritte Generation…»2

Dass Frankreich ein rassistischer Bullenstaat ist, daran lässt sich nicht zweifeln. Man braucht nicht sehr weit zurückblicken, um auf die koloniale und imperialistische Vergangenheit dieses Staates, voller Blut, Ausbeutung und Erniedrigungen zu stossen. Während den zwei Weltkriegen zum Beispiel mussten Bataillone von Kolonieangehörigen (vor allem aus Senegal und Algerien) in vorderster Front stehen und für den Staat Frankreich sterben. In den Nachkriegsjahren wurde eine massive Einwanderung aus diesen Ländern gefördert, um die Industrie und die Wirtschaft anzukurbeln. Sie wurden zur Fronarbeit auf Baustellen und in Fabriken verpflichtet. Sei es als Kanonenfutter oder als Billigkräfte, die eingewanderte Bevölkerung wurde immer verachtet und nie wirklich in der «französischen Gesellschaft» integriert. Zuerst wurden die Meisten in Slums an der Peripherie der Großstädte zusammengedrängt, bis die ersten «Cités» verplant wurden. Die Idee: Möglichst viele ungebildete Arbeiter*innen in grossen Siedlungen zu konzentrieren, außerhalb der Städte aber in Fabriksnähe, in riesigen Betonblöcken mit Blumennamen. Seit den sechziger Jahren sind diese Hochhaussiedlungen immer voller geworden, und die Landschaft der Banlieues hat sich bis heute kaum verändert.

Die soziale Realität bleibt auch unverändert: Verbannung, Perspektivlosigkeit, eingeschränkter Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt ist heutzutage immer noch das Los einer überwiegenden Mehrheit von Jugendlichen aus diesen «Problemvierteln». Dort ist die Repression allgegenwärtig: alltägliche rassistische Kontrollen, gewalttätige Razzien, erdrückende Polizeipräsenz. Die Bullerei spielt als uniformierte Staatsgewalt eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung und Reproduktion dieser Herrschaftsverhältnisse.

Der Auslöser für die Revolte von 2005 war der Tod von Zyed und Bouna. Als sie von einem Fußballspiel heimkehrten, wurden diese zwei Jungs von 17 und 15 Jahren von einer Polizeistreife verfolgt. Sie versuchten sich vor der Kontrolle in einem Transformator zu verstecken und bekamen dort einen tödlichen Stromstoß von 20’000 Volt. Später wurden Funksprüche der Streife veröffentlicht, die beweisen, dass den Bullen die Gefahr völlig bewusst war und sie trotzdem die Verfolgung weiterführten. 2015 wurden die Bullen endgültig freigesprochen.

«Théo und Adama erinnern uns, wieso Zyed und Bouna weggerannt sind » 3

Im Juli 2016 stirbt Adama in einer Bullenstation. Unmittelbar bricht in seinem Viertel ein Aufruhr aus. Die offizielle Version lautet, sein Tod sei auf seinen schlechten Gesundheitszustand zurückzuführen. Erst nach einer Woche, zwei Autopsien und viel Druck wird berichtet, dass Adama während seiner Festnahme vom Gewicht dreier Bullen niedergedrückt wurde und dadurch erstickte. Im November werden zwei Brüder von Adama nach einer Protest-Demo vor dem Rathaus festgenommen. Einer befindet sich immer noch im Knast. Ihre Schwester wurde auch wegen Verleumdung angeklagt.

Théo wird im Februar 2017 während einer Kontrolle rassistisch und sexistisch beschimpft, verprügelt, und vergewaltigt. Mit einem Teleskopschlagstock wurde ihm eine zehn Zentimeter tiefe Wunde im Darm zugefügt. Laut dem Bericht der Bullen, die von einer «zufälligen Vergewaltigung» reden, soll seine Hose von selber runter gerutscht sein. Seit dem 6. Februar gibt es ununterbrochen Unruhen.

Es sieht so aus, als ob die Revolte sich jeden Tag wie ein Flächenbrand in alle Nord- und Ost-Banlieues von Paris, sowie in der Hauptstadt selbst, ausbreiten würde.

Angefangen hat es in Aulnay, der Stadt woher Theo kommt. Am 11. Februar gab es eine große Versammlung vor dem Gericht von Bobigny, einem symbolträchtigen Ort, wo tausende Jugendliche aus dem Pariser Vorort schon verurteilt wurden, wo auch mehrere Bullen mit blutigen Händen schon freigesprochen wurden. Angesichts der angehäuften Wut und der massiven Bullenpräsenz hat sich die Versammlung ziemlich schnell zu einer Auseinandersetzung entwickelt. Interessant dabei ist die entstandene Solidarität. Diesmal gab es keine Spaltung zwischen «Randalierer*innen» und «guten Demonstrant*innen». Alle blieben, als das erste Journalisten-Auto angezündet wurde und als manche die Bullen mit Steinen und Pyrotechnik angriffen, standen andere daneben und sangen. Die Feindschaft zwischen Gangs und verschiedenen Cités hat sich vor dem gemeinsamen Feind ebenso verflüchtigt. So wurden zum Beispiel Fluchtwege zwischen den verschiedenen Vierteln geschaffen, was sehr außergewöhnlich ist und die Bullen total überforderte.

Oft wiederholt sich dasselbe Schema: Bei Anbruch der Dunkelheit zerstreuen sich die massiven Versammlungen in kleine Gruppen von Aufrührer*innen. Dann bricht echte urbane Guerilla aus. Es wurden zum Beispiel Präfekturen, Rathäuser, Polizeistationen, McDonalds oder Tankstellen mit Steinen und Molotowcocktails attackiert. Mehrere Sportgeschäfte wurden auch geplündert. Diese Aufteilung in kleinere Gruppierungen erlaubt eine hervorragende Mobilität und permanente Störmanöver gegenüber den Bullenstreifen. Die «Sicherheitskräfte» versuchen zweifellos die Kontrolle über die Viertel zurückzuerobern. Diese Städte wurden schon damals für die Bekämpfung von Aufständen geplant – das Gericht von Bobigny ist zum Beispiel nur durch einen sehr schmalen Steg zu erreichen, der vom Vorplatz aus nicht anzugreifen ist. Die Bullenpräsenz wird zur diffusen militärischen Besatzung, die es unbedingt anzugreifen gilt. Es wurde eine unglaubliche Menge an Gummischrott und Blendgranaten eingesetzt. Auf manchen Bilder sieht man, wie die Tränengaswolken die letzten Stockwerke der riesigen Hochhäuser vernebelten. Die Bullerei hat sogar mit scharfer Munition Warnschüsse abgegeben. Öffis halten in den meisten Haltestellen der Zone nicht mehr und die Straßenbeleuchtung wurde abgestellt. Es wurde auch eine Art Ausgangssperre für die ganze Banlieue eingesetzt.

Laut Berichten ist auch das Zusammenkommen von erfahrenen Militanten aus Paris, die am Radau teilnehmen wollen, und rebellischen Jugendgruppen vom Vorort bemerkenswert. Solche Begegnungen waren in den letzten Jahren nicht immer einfach; sowohl ihre Grundüberzeugungen als auch ihre alltäglichen Repressionserfahrungen sind ganz unterschiedliche. Im Eifer des Gefechts bildete sich aber eine Kompliz*innenschaft, die einen bedeutenden Wissensaustausch ermöglichte: Einerseits kennen sich die einen besser mit dem Terrain und den dortigen Bullentaktiken aus, andererseits nehmen die anderen Salzlösung, Schutzbrillen, Vermummungen und AntiRep-Nummern mit. Die Frage bleibt trotzdem offen, wie solche heterogenen Erlebnisse und Vorgehensweisen im gemeinsamen Kampf zusammenlaufen können.

«Polizei überall Gerechtigkeit nirgends»

Der kleine gemeinsame Nenner lautet Bullenhass, und das reicht zunächst. Es scheint auch, dass diese Revolte nicht zu vereinnahmen ist, dass niemand sie verwalten kann: weder Kandidaten, noch NGOs oder onkelhafte Gewerkschaften. Es wurde zum Beispiel eine Person ausgepfiffen, die das Wort ergreifen wollte, um die Demonstrant*innen zum Wählen zu ermuntern – die Präsidentschaftswahlen sollen ja im April-Mai stattfinden. Ein Versuch, die Nationalhymne anzustimmen, ist auch sehr rasch fehlgeschlagen. Trotz der allenthalben Beruhigungsaufforderungen seitens der Regierung, der Medien und auch der Opferfamilien, ist zu hoffen, dass sich diese Revolte nicht zügeln lässt.

Gewisse Forderungen bleiben trotz allem im bürgerlich-liberalen Diskurs stecken. Beispielhaft: «Wir sind eigentlich alle Französ*innen; wir sollten die selben Rechte haben, und gleich behandelt werden». Wenn manche mehr Gerechtigkeit der Wahrheit verlangen, machen sich aber viele keine Illusionen mehr über den Staat und seine Wachhunde. Die überwiegende Mehrheit der Medien hat die offizielle Version Wort für Wort übernommen. Die meisten Politiker*innen haben sich gleich nach den Ereignissen mit den Bullen solidarisiert, «die schon in sehr prekären Bedingungen arbeiten». Alle Bullen, die solche Sauereien begangen haben, wurden ausnahmslos freigesprochen oder bekamen kleine Bewährungsstrafen. Dagegen sind schon hunderte Jugendliche, die die letzten Wochen Bahö auf den Straßen machten, festgenommen worden und zu schweren Strafen verurteilt worden.

Die Justiz ist vor allem für die Sicherung des Staates da, für das Fortbestehen der Herrschaftsordnung. Solche reformistischen Forderungen nach einer Verbesserung des Systems sparen den autoritären Kern von jedem Staat total aus. Es hat hier gar keinen Zweck, vom Staat mehr Gerechtigkeit zu fordern: Es war einfach nie seine Angelegenheit.

Menschen, die von der Gewalt und den Einschüchterungen seitens der Bullen schockiert sind, vergessen dabei, dass solche Übergriffe tatsächlich die Regel sind. Im Durchschnitt werden in Frankreich jedes Jahr über zehn Menschen während Kontrollen oder Festnahmen ermordet. Die Gewalt ist bei weitem keine isolierte Tatsache, die von «verantwortungslosen» Individuen begangen wurde. Diese immer wiederholte Gewalt ist ein fester Bestandteil der Aufgabe der Hüter der Rechtsordnung. Diese institutionelle Gewalt hält die ungerechten Herrschaftsverhältnisse und die systematische Ausschlusspolitik des Staates aufrecht.

Die Übergriffe auf Théo und Adama waren kein Zufall. Beide rebellierten gegen die unterdrückende Normalität; beide haben bei «gewöhnlichen» Identitätskontrollen eingegriffen. Beide wurden übrigens nachträglich – das heißt nach seinem Tod beziehungsweise nach seiner Vergewaltigung – von den Bullen wegen Widerstand angeklagt. Sie mussten wieder in ihre Schranken von folgsamen Unterdrückten gewiesen werden. Deswegen wurden sie auf dieser Art und Weise gebrochen und vernichtet. Es waren keine Ausnahmen, sondern der reine Ausdruck der rassistischen, machistischen und klassistischen Vormacht, die uns alle beherrscht.

Auch wenn der Auschluss in Frankreich ein viel sichtbarer ist, so haben doch die Bullen hier wie dort die selbe Funktion: den Schutz der herrschenden Ordnung. Und auch wenn die sozialen Spannungen in Frankreich andere sind als hier, zeigen die Leute in den Banlieues den einzigen respektablen Umgang mit der Kiberei: sie aus den Vierteln zu verjagen!

1 Titel eines Raps von La Rumeur – 2007

2 «…Wir sind alle Migrantenkinder»

3 Graffiti vor dem Gericht von Bobigny