Bloß brave Mädchen und Jungen?

Der vorliegende Text wurde aus aktuellem Anlass aus der Broschüre „Revolutionäre Solidarität ­ Schriften für den sozialen Krieg“ entnommen, die im Sommer 2008 im Antagonismus­Verlag in Wien erschienen ist. Das ist nun knapp zehn Jahre her, aber viele der Diskussionen sind eben nach wie vor aktuell. Wir möchten mit diesem Text, den wir aus der (umfangreicheren) Broschüre entnommen haben, erneut die Diskussion darüber anstoßen, was Solidarität für uns bedeutet und wie wir in „heiklen“ Situationen handeln. Die gesamte Broschüre kann über unsere Mail­Adresse bezogen werden. Dieser Text ist ein Ausschnitt aus einem längeren Text mit dem Titel „Die Tugend des Quälens“ von Aldo Perego

Der moderne legale Apparat ist extrem rational und wissenschaftlich, wenn er seine überlegene „Unparteilichkeit“ durch die Anwendung der Prozedur, die die bewilligten Möglichkeiten für die Angeklagten und ihre Verteidigung fast bis auf ein Milligramm abwiegt, zur Schau stellt und festigt. Er kann es sich sogar erlauben zu den Individuen skrupellos zu sein, die dazu verpflichtet sind sich zu fügen: er kontrolliert sie, plündert sie komplett, er hat sich die volle Macht über ihre Existenz angeeignet. Allein seine Existenz ist ein Sieg, da er alle dazu zwingt nach seinen Regeln zu spielen, eingeschlossen Menschen wie wir, die ihn anfechten.

Nur die unverbesserlichen linken MoralrednerInnen können ein Urteil oder einen Freispruch als einen Sieg oder eine Niederlage von Gerechtigkeit ansehen. Und es ist kein Wunder, dass es dieselben sind, die sich weigern, die Justiz an sich zu kritisieren und die Natur von Demokratie nicht verstehen oder akzeptieren. Für sie liegt die eigentliche Opposition zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Faschismus und Antifaschismus usw. Genau wie sie sich an Wahlen beteiligen oder das Wahlrecht für ImmigrantInnen fordern, rufen sie nach Jurys aus der ArbeiterInnenklasse, anstatt „bourgoise“ RichterInnen. Ihre Perspektive ist überhaupt nicht Justiz als solche zu zerstören, sondern sie zu demokratisieren, wie alles andere auch. Ob nun tragisch oder komisch, die Reproduktion der Charakteristik von Justiz und ihrem Anhang Knast, oft unter den Unterdrückten selber, lässt das effektive Ausmaß des Problems erkennen.

Manchmal kann die Pflicht verspürt werden, das Lager des Feindes zu betreten und mit der legalen Sprache zu argumentieren, wenn auch nur um zu „verhandeln“; aber das wird niemals einen Sieg darstellen. Und sowieso ist das eine Aufgabe, die am besten der AnwältIn zu überlassen ist. Eine öffentliche Aktion zum Beispiel, die fähig ist, Zweifel aufkommen zu lassen, mit der Vogelscheuche des glamourösen „legalen“ Fehlers winkend und gute Arbeit der AnwältInnen während der Gerichtsverhandlung, kann die Justiz sogar dazu zwingen von ihrem harten Urteil abzusehen. Doch das ändert nicht den Fakt, dass die Justiz sowieso ihren eigenen Regeln entsprechend gehandelt hat, indem sie uns verpflichtet sie zu respektieren. Darüber hinaus ist eine Institution, die fähig ist ihre Fehler zuzugeben, eine Institution, die sich so stärkt. Genauso ist ein Gericht, das frei spricht, gleich dem das verurteilt, noch immer ein Gericht. Es ist schwer sich einen Platz vorzustellen, an dem die Enterbten weniger Macht haben, als in einem Gericht. Ein Ausnahmefall könnte entstehen, wenn von der sozialen Bewegung Druck auf die Justiz ausgeübt würde. Zum Beispiel, wenn sich eine Menge versammelt, um eine Freilassung zu fordern, sowie eine Polizeistation von hunderten DemonstrantInnen belagert werden kann, um die Freilassung der Verhafteten zu fordern. Aber dieser Druck ist extern. Es ist immer woanders, dass die Kraft der Unterdrückten sich bilden kann.

Die Überzeugung zu entwurzeln, dass der einzige Weg wohltätige Behandlung durch den legalen Apparat zu erhalten, das Aufzeigen der sozialen Harmlosigkeit der Gefangenen innerhalb dieses legalen Rahmens ist, bleibt trotzdem oft eine anstrengende Aufgabe. Ja, und in der Theorie sind wir alle davon überzeugt, dass die beste Solidarität mit einem Akt der Revolte, eine weitere Revolte ist. Viele sind fähig einer gelungenen Aktion zu applaudieren oder sie zu loben, und es fehlt nicht an GefährtInnen, die bereit sind, diese Maxime in die Praxis umzusetzen und so zu ihrer Verallgemeinerung beizutragen. Jede subversive Handlung geht viel weiter als ihr eigentliches Resultat, im Guten wie im Schlechten. Im Gegenteil dazu kommt niemand auf den Gedanken zu handeln, wenn etwas „falsch läuft“ und die AutorInnen des Aktes der Rebellion herausgegriffen oder verhaftet werden. Solidarität konkretisiert sich nicht länger in (unseren) Taten, sondern in der Reaktion auf die Taten anderer, in diesem Fall, die der RichterInnen.

So warten wir lieber ab, hören auf die Ratschläge der AnwältInnen, die Erklärungen der verhafteten GefährtInnen, den Abschluss der Ermittlungen. Wir warten um zu sehen, wie die Dinge laufen, als wenn das, was vorher zählte unsere Sehnsüchte und unsere Versuche sie zu realisieren war, und es jetzt nur noch darum geht unsere GefährtIn „raus“ zu kriegen. Auch wenn wir nicht „neue Märtyrer für die Sache“ erschaffen wollen, auch wenn GefährtInnen aus dem Gefängnis rauszuholen eines unserer zweifellos primären Ziele ist, ist es dennoch notwendig die beabsichtigten Mittel zu evaluieren und sich ihrer Struktur und ihren Grenzen bewusst zu sein. Stattdessen sieht es so aus, als wäre es vorteilhafter die gewohnten Kritiken der Justiz zur Seite zu legen. Vergessen sind die Kriegserklärungen an diese Gesellschaft. Sich darauf beschränken „gerecht“ zu sein und folglich eine „unschuldige“ Person freigesprochen und einen „kranken“ Gefährten freigelassen sehen wollen. Oder das, was wir in anderen Umständen als Gesten von Rebellion betrachten würden, für nichts als „kindlichen Schabernack“ halten. Aber ist es wirklich das, was wir wollen? An die humanitären Gefühle derer appellieren, die wir verachten?

Im Angesicht der Justiz und der Angst die sie hervorruft, scheint es, als ob wir unfähig wären irgendetwas anderes zu tun, als uns selber und dem, was wir begehren abzuschwören. RebellInnen und RevolutionärInnen solange wir frei sind. Einmal in den Händen des Feindes sind wir nur noch fähig unsere physischen Schmerzen, unsere „Unschuld“, die Harmlosigkeit unserer vollbrachten Aktionen aufzuzeigen. Die Macht steckt Subversive und AnarchistInnen in den Knast, weil sie als solche „sozial gefährlich“ sind. Ist ihre Darstellung als unschuldige Lämmer alles, wozu wir fähig sind, um sie raus zu kriegen? Sind wir zynisch? Legen wir uns eine Entschuldigung für Aufopferung zurecht? Nichts von alledem! Wir werden einfach nur von einer unangenehmen Frage gequält, die anfängt uns zu beunruhigen: sind wir bloß brave Mädchen und Jungen?