Die Herrschenden

Anarchistinnen und Anarchisten sprechen oft von den Herrschenden. Wen meinen wir damit? Eine Annäherung anhand zweier Extrempositionen.

Erstens die marxistisch geprägte Position, die behauptet, dass es keine Herrschenden gibt. Dass es zwar Menschen in Herrschaftspositionen gibt, dass diese jedoch nur Charaktermasken sind. Dass sie absolut austauschbar wären, dass es einzig und allein auf die Gesellschaftsstruktur ankäme. Dass sich das Verhalten der Einzelnen aus ihrer Rolle in den sozialen Beziehung innerhalb des Kapitalismus ableitet. Daraus folgt, dass die Person in der Herrschaftsfunktion eigentlich keine Verantwortung für ihr Handeln trägt, weil ihm oder ihr abgesprochen wird, bewusst zu handeln. Sie einzeln als solche zu benennen wäre also nutzlos und deshalb abzulehnen.

Die zweite Position ist die der Verschwörungstheoretiker. Sie geht davon aus, dass wir von kleinen Machteliten beherrscht werden. Zum Beispiel von Außerirdischen, sogenannten Reptiloiden, oder wem auch immer – wobei es meist darauf hinausläuft, dass es sich um Juden handelt. Diese Eliten, „die Männer hinter den Männern hinter den Männern“, treffen sich beim Bilderbergertreffen und machen sich dort aus, wie die Welt weiter verwaltet wird. Es sind also Individuen oder Wesen, die sich ihrer Herrschaftsposition sehr bewusst sind. Es ist jedoch nahezu unmöglich sie zu benennen, da jene, die augenscheinlich in Frage kämen, nur Marionetten sind und die Herrschenden selbst leben viel zu geheim als dass wir sie kennen könnten.

Ich habe die beiden Positionen bewusst überzeichnet: Auf der einen Seite die sozialen Strukturen und auf der anderen unbenennbare Elitezirkel, die unser aller Leben bestimmen. Ersteres führt zu Ohnmacht weil diese Strukturen so mächtig sind, dass wir als einzelnes Indivduum nichts ausrichten können, wir können uns lediglich in die Partei der Bewussten einreihen und warten, bis sie groß genug ist, um der Macht des Kapitals und des Staates eine Gegenmacht entgegen zu stellen. Bis dahin gibt es kein Richtiges im Falschen. Die zweite Position führt zu Ohnmacht, weil sie uns vorgaukelt, dass wir es mit übermächtigen Eliten zu tun hätten, die da draußen sind und gegen die wir nichts tun könnten, weil wir sie nicht einmal identifizieren können. Ich denke, dass beide Ansätze zu einfach sind.

Wir sind mit den institutionalisierten sozialen Beziehungen des Staates und des Kapitals konfrontiert. Diese werden tagtäglich durch die Aktivität aller am System Teilhabenden aufrecht erhalten. Was wiederum den Schluss, dass wir alle Teil des Systems sind, alle Veranwortung tragen und es deshalb keine Herrschenden gäbe, bestärkt. Aber: darüber hinaus gibt es konkurrierende Individuen und Machtzirkel, welche sich ihrer Rolle sehr wohl bewusst sind und auf deren Initiative hin und durch deren Kampf um die Macht, sich die Herrschaft (weiter) entwickelt.

Und ja natürlich, führen tagtäglich reproduzierte Gewohnheiten dazu, dass im Kapitalismus Menschen bestimmte Charakterzüge und Fertigkeiten entwickeln und ausprägen. Das heißt jedoch nicht, dass wir ihnen deshalb absprechen sich entscheiden und für ihr Handeln Verantwortung übernehmen zu können. Im Kapitalismus müssen wir unsere Lebenszeit verkaufen um zu überleben, damit reproduzieren wir den Kapitalismus mit, was jedoch nicht bedeutet, dass wir Karriere machen müssen. Es gibt immer die Möglichkeit zu desertieren. Es ist eine Entscheidung sich in die Positionen zu arbeiten von denen aus man über Andere herrscht. Ich denke deshalb, dass Herrschaftsfunktionen nicht unabhängig von der Entscheidung der Individuen, sie innezuhaben, betrachtet werden dürfen. Deshalb behaupte ich, dass wir beides anprangern müssen: Die institutionalisierten sozialen Beziehungen von Staat und Kapital sowie die Herrschenden, die darin die Führungspositionen einnehmen.

Dabei bemisst sich unsere Feindschaft ihnen gegenüber nicht in den moralischen Kategorien „gut“ oder „böse“. Ein Gefängnisdirektor kann ein tugendhafter, liebender Familienvater sein, der sich um seine Gefangenen sorgt und genauestens darauf achtet, dass die Gesetze eingehalten und niemand misshandelt wird – schlicht ein „guter Mensch“. Sondern unsere Feindschaft bemisst sich darin, dass das einzelne Individuum durch sein oder ihr Handeln und Ausfüllen einer Herrschaftsfunktion Verantwortung für die (Re-)Produktion und Ausweitung von Herrschaft trägt. Ein Gefängnisdirektor ist ein Gefängnisdirektor.

Diese beiden Kriterien, die Entscheidung zur Herrschaft und die Verantwortung, ermöglichen es uns auch gegen jene zu argumentieren, die behaupten, dass „der Mensch“ von Natur aus herrschen will. „Der Mensch“, der hier immer synonym für „die Menschheit“ steht, also die Gesamt heit der Spezies Mensch.

Jedoch: Es ist nicht die Menschheit, die Gefängnisse baut und verwaltet, es ist nicht die Menschheit, die an Gen- und Nanotechnologie forscht. Es ist nicht die Menschheit, die Gesetze beschließt oder ihre philosophischen Legitimationen schafft. Es ist nicht die Menschheit, die die Ausbeutung und das Elend eines Großteils der Menschheit rechtfertigt. Es ist nicht die Menschheit, die Fracking betreibt. Es ist nicht die Menschheit, die Atomkraftwerke unterhält. Es ist nicht die Menschheit, die Kriege plant und an ihnen profitiert. Es sind genau benennbare Individuuen mit benennbaren Herrschaftsfunktionen: Es sind Architekten, es sind Techniker, es sind Politiker, Uniprofs, Banker, Generäle, Kapitalisten, Gottesmänner…

Anhand dieser Ausarbeitung sollte klar geworden sein, wen wir als die Herrschenden auffassen. Dass sie kein Hirngespinnst sind, sondern real existieren und dass sie, im Gegensatz zu irgendwelchen imaginierten Geheimzirkeln, benennbar sind. Und dass sie Namen und Adressen haben.