Der folgende Text erschien in dem italienischen anarchistischen Wochenblatt „Canenero“, das von 1994 – 1997 herausgegeben wurde und von großer Bedeutung für die anarchistische Bewegung dieser Zeit war . Ausgehend von der englischen Übersetzung des Textes fertigte ich eine deutschsprachige an, da ich denke, dass die angesprochenen Punkte bezüglich des sozialen Konsens besonders hier relevanter denn je sind. Gerade hier in Österreich scheint die Zustimmung der Ausgebeuteten selbst zu ihrer Situation besonders giftig für das Aufleben von Rebellion und Aufruhr zu sein. Der soziale Konsens, die Akzeptanz der Umstände und das Kompromissdenken müssen gebrochen werden. Und vielleicht können die hier formulierten Gedanken einen kleinen Anstoß dazu geben…
Meiner Meinung nach entspringen viele Missverständnisse in Bezug auf die demokratische Verwaltung aus der Vieldeutigkeit des Konzepts vom sozialen Konsens. Der folgende Absatz enthält eine Argumentationslinie, die im Moment unter sehr vielen AnarchistInnen weit verbreitet ist.
Als die Basis dieser Gesellschaft der Herrschaft noch schlicht die sichtbare, gewaltige Brutalität war, war die Bedeutung der Praxis der Revolte für die Ausgebeuteten offensichtlich. Wenn sie nicht rebellierten, war es schlichtweg wegen der Erpressung durch die Polizei und weil der Hunger sie zu Resignation und Elend zwang. Also war es notwendig, mit Verbissenheit entgegen dieser Erpressung zu handeln Heutzutage jedoch profitieren die staatlichen Institutionen von der Teilnahme der Massen, seit eine großangelegte Offensive der Konditionierung sie zur Zustimmung bewegte. Daher sollte die Revolte heutzutage auf die Delegitimierung, die schrittweise und ausgeweitete Erosion des sozialen Konsens abzielen. Somit können wir ausgehend von diesen kleinen Zonen, wo die Autoritäten ihre Legitimation verloren haben, ein Projekt der sozialen Transformation entstehen lassen. Andernfalls wird die Rebellion zum Selbstzweck; im besten Fall wird sie zu einer sinnlosen und falsch verstandenen Geste des Beobachtens oder im schlimmsten Fall trägt sie zur Erhöhung der Repression und zur Abwendung von den tatsächlichen Belangen der Ausgebeuteten bei. Dies erscheint mir das Wesentliche einer Diskussion zu sein, die zu unterschiedlichen Zeiten in tausend verschiedenen Gewändern daherkommt.
Tatsächlich aber basiert diese Argumentationslinie auf der falschen Annahme der Trennung zwischen sozialem Konsens und Repression. Es ist klar, dass der Staat diese beiden Kontrollinstrumente benötigt und ich glaube, dass niemand dieser Offensichtlichkeit widersprechen wird. Aber zu glauben, dass Macht allein mit Hilfe der Polizei oder mit Hilfe des Fernsehens weiterbestehen kann, reicht nicht aus. Es ist wichtig zu verstehen, in welchem Verhältnis die Polizei und das Fernsehen zueinander stehen.
Wenn der soziale Konsens lediglich als eine Art nicht-materieller Apparat verstanden wird, scheinen Legitimation und Zwang lediglich verschiedene Umstände zu sein, in denen das materielle Aussehen des Befehls entsteht; in anderen Worten: wenn man denkt, dass die Herstellung einer spezifischen psychologischen Verhaltensweise – die der Akzeptanz – irgendwo anders liegt als in den Strukturen der Ausbeutung und des Gehorsams, die wiederum auf einer solchen Sichtweise beruhen. Aus diesem Blickwinkel ist es völlig irrelevant, ob die Herstellung der Akzeptanz vorher (als Vorbereitung) oder nachher (als Rechtfertigung) geschieht. Das Interessante ist, dass es nicht zur gleichen Zeit geschieht. Und hier ist es auch, wo die Trennung, von der ich gesprochen habe, liegt.
Tatsächlich existiert die Trennung zwischen der inneren Sphäre des Bewusstseins und der praktischen Sphäre der Aktion nur in den Köpfen – und in den Projekten – von Priestern jeglicher Art. Aber schlussendlich sind sogar sie gezwungen, ihren himmlischen Fantasien ein irdisches Terrain zu geben. Genauso wie Descartes die Zirbeldrüse im menschlichen Gehirn als den Ort verstand, an dem die Seele ruht, ernannte die Bourgeoisie das Privateigentum zur Festung ihres verarmten, heiligen Ichs. Auf die gleiche Weise erhebt der moderne Demokrat Anspruch auf Wahlen und Meinungsumfragen, weil er nicht weiß, wo er den sozialen Konsens sonst platzieren soll. Und als letzter betritt der „fortschrittliche Libertäre“ die Bühne und spricht von der delegitimierenden Praxis in einer „nichtstaatlichen öffentlichen Sphäre“ mit mysteriösen Grenzen.
Sozialer Konsens ist ebenso eine Ware wie z.B. ein Hamburger oder der Bedarf nach Gefängnissen. Die totalitärste aller Gesellschaften ist diejenige, die es schafft, unseren Ketten die Farbe der Freiheit zu verpassen; so ist diese Gesellschaft selbst zu einer Ware schlechthin geworden. Wenn die effektivste Art der Repression diejenige ist, das Verlangen nach Rebellion auszuschalten, dann ist der soziale Konsens die präventive Repression, das Überwachen von Ideen und Entscheidungen. Die Herstellung dieser Waren ist ebenso materiell und real wie die Kasernen und die Supermärkte. Zeitungen, Fernsehen und Werbung sind Mächte, die ebenbürtig mit den Banken und den Armeen sind.
Wenn das Problem von dieser Seite betrachtet wird, wird es offensichtlich, dass die sogenannte Legitimation nichts weiter ist als das Befehlen. Sozialer Konsens ist Zwang und wird durch präzise Strukturen ausgeübt. Und das bedeutet – das ist der Schluss, den niemand daraus ziehen will – dass er angegriffen werden kann. Andernfalls würde man mit einem Phantom kämpfen, das im Moment seines Erscheinens bereits gewonnen hätte. Unsere Möglichkeit zu Handeln wäre komplett das Selbe wie unsere Unmöglichkeit zu Handeln.
Ich könnte sicherlich die konkrete Realisierung der Macht angreifen, aber ihre Legitimierung lässt vor und nach einem Angriff nicht auf sich warten und hebt damit die Bedeutung des Angriffs auf.
Wir sehen also, dass unser Verständnis von der Realität der Herrschaft unsere Art und Weise, die Revolte zu begreifen, beeinflusst. Und umgekehrt.
Die Teilnahme an Projekten der Macht hat sich ausgeweitet und das tägliche Leben wird zunehmend davon durchdrungen. Stadtplanung macht die polizeiliche Kontrolle teilweise überflüssig und die virtuelle Realität zerstört jeden Dialog. All das erhöht die Notwendigkeit des Aufstands noch (mit Sicherheit beseitigt sie sie nicht). Wenn wir mit der Revolution warten müssten, bis Alle zu AnarchistInnen geworden sind, wären wir in großen Schwierigkeiten, wie Malatesta sagte. Wenn wir auf die Delegitimierung von Macht warten müssten, bevor wir sie angreifen, wären wir ebenso in Schwierigkeiten. Aber glücklicherweise zählt das Warten nicht zu den Tugenden der Unersättlichen. Das Einzige, was wir verlieren müssen, ist unsere Geduld.