Einige Worte zu etwaigen offenen Fragen, Kritik und Missverständnissen (Teil I)

In der letzten Ausgabe der Revolte (August 2018) haben wir einen Text abgedruckt, der uns, mit der Anfrage um Veröffentlichung, zugeschickt wurde. Der Text setzt sich hauptsächlich mit dem Artikel ‚Über die Toleranz’ (Ausgabe Juli 2018) kritisch auseinander, nimmt aber auch Bezug auf den Text ‚Improvisieren‘ in derselben Ausgabe. Zuallererst begrüßen wir natürlich kritische Beiträge. Wir halten solche Diskussionen für wichtig, auch wenn wir sehr oft nicht auf endgültige Übereinkünfte kommen. Das ist aber unserer Meinung auch gar nicht so wichtig. Wir bedanken uns für den Beitrag und wollen hier auf die Kritikpunkte antworten, um einige unserer Positionen erneut darzulegen, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, aber auch, um unseren Standpunkten einen klaren Ausdruck zu verleihen. Aufgrund der unterschiedlichen Kritikpunkte und Fragen, die in dem Text aufgeworfen werden, sehen wir die Notwendigkeit, auch eine umfangreichere Antwort zu liefern. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen in dieser Ausgabe lediglich den ersten Teil abzudrucken. Der zweite Teil wird in der Oktoberausgabe folgen.

Um eine Diskussion auf effektive Weise führen zu können, müssen wir uns zuallererst darüber im Klaren sein, worum es hier überhaupt geht. Als derjenige, der den Text ‚Über die Toleranz‘ geschrieben hat, will ich noch einmal zusammenfassen, was Intention dieses Textes ist/war. Um dir danach auf deine Kritik zu antworten und gleichzeitig meine eigenen Kritikpunkte in die Debatte zu werfen…

Die Toleranz ist in der heutigen demokratischen Gesellschaft eine Krücke. Sie kann auf unterschiedliche Weise im ‚politischen‘ Kontext verwendet werden. Wie ich geschrieben habe: „[…] als politisches Instrument der modernen kapitalistischen Demokratie […]“. Das ist der Rahmen in dem ich meinen Begriff von Toleranz gesetzt habe. In keiner Weise werden in dem Text irgendwelche zwischenmenschlichen Beziehungen, im Kontext von Toleranz, genauer erörtert. Auch die von dir vorgebrachte Stelle über Solidarität und freier Vereinbarung setzt sich nicht klar mit zwischenmenschlichen Beziehungen, Freundschaften, etc. auseinander. Hier noch einmal die vollständige Formulierung: „Freiheit ist die Abwesenheit von Zwängen, mit allen Risiken und dem Verlust des demokratischen Komforts. Diese Freiheit will ich erkämpfen, ohne meine ethischen Ansprüche von Solidarität und freier Vereinbarung mit anderen über den Haufen zu werfen.“

Was ich damit sagen will: In meinem Text geht es nicht primär um zwischenmenschliche Beziehungen. Mir ist es vielmehr, ausgehend von einer Ablehnung des hohlen Begriffs und Konzepts der Toleranz, das versucht Reibungspunkte zu eliminieren, darum gegangen, die Logik der Toleranz als herrschaftliches Instrument zu entlarven.

Ich verstehe, dass dir in unserer Zeitung bestimmte Themen fehlen. Zum Teil gebe ich deiner Kritik Recht. Unserer Publikation mangelt es natürlich an gewissen Diskussionen und Inhalten. Wir haben nie geglaubt, mit der Gründung der Zeitung ‚Revolte‘, alle Blickwinkel der Herrschaftskritik abdecken zu können. Sie resultierte aus dem Verlangen einiger anarchistischer Individuen, auf Grundlage ihrer Affinitäten, ein Projekt zur Agitation von Ideen zu erschaffen, die uns selbst und andere befähigen könnten, Strukturen der Herrschaft und die Mentalität der grassierenden Lethargie zu benennen, zu analysieren und anzugreifen oder zu durchbrechen, bzw. über Organisationsformen, Geschehnisse und Auseinandersetzungen, die es in dieser Richtung gibt, zu berichten und zu diskutieren. Um ausgehend von unseren eigenen Vorstellungen zu agieren und nicht um alle ‚Themen‘ (deine Formulierung), die anderen ein Bedürfnis sind, für sie abzudecken. Damit unser Bild vom Kampf gegen die Herrschaft möglichst nicht ‚löchrig‘ erscheint, um es allen recht zu machen. Das war nie unsere Position! Und das hat nichts mit Ausblenden zu tun. Es gibt auch viele andere Aspekte zu denen wir noch keine oder sehr wenige Worte verloren haben: Ökologie, Schule & Erziehung, Urbanität und Architektur, historische Analysen, Tierbefreiung, etc. Um nur einige zu nennen. Bedeutet das, dass uns diese Aspekte alle scheissegal sind? Nein, wir haben einfach keine Position dazu entwickelt, die wir spannend finden würden unserer Umwelt mitzuteilen. Bei manchen dieser Kämpfe, würde eine tiefer gehende Auseinandersetzung auch nicht zu uns passen, wenn wir unsere tägliche Realität oder die Kämpfe in denen wir aktiv sind betrachten. Aber wer weiß, vielleicht passiert das eine oder andere noch. Zur Zeit konzentrieren wir uns aber auf genau jene Ausprägungen der Herrschaft, die uns am nächsten erscheinen und uns am stärksten berühren. Wenn du das als Defizit und als Schwachstelle unserer Publikation auslegen willst, dann stimme ich dir zu. Das mag vielleicht für einige ein Grund sein, uns zu kritisieren oder die Zeitung als ‚abstoßend‘ zu empfinden, wie das vor einiger Zeit jemand formuliert hat.

Die Revolte erscheint seit Jänner 2016 und damit haben wir bis jetzt 33 Nummern veröffentlicht. Wir haben immer wieder gerne Beiträge in unsere Zeitung aufgenommen und unter dem Zusatz„[…] wurde uns zugeschickt […]“ veröffentlicht. Es wäre also möglich gewesen uns etwas in Form eines Artikels, eines Diskussionsbeitrages oder was auch immer dein Bedürfnis gewesen wäre, zu schicken. Wir verschließen uns also nicht vor Beiträgen oder Diskussionen. Wir lehnen es aber ab, gewisse Inhalte für andere zu vermitteln, sondern gehen von unseren eigenen Verlangen aus. Das verengt manchmal den Blick für andere Themen, aber es war unser Ziel sich auf bestimmte Aspekte zu fokussieren und einem roten Faden zu folgen, einen Stil zu entwickeln, den wir laufend verfeinern und vertiefen können. Wir haben auch versucht zu vermeiden, von ‚Thema‘ zu ‚Thema‘ zu springen, bis alles durch ist, um dann zu bemerken, dass wir alles nur sehr oberflächlich behandelt haben, aber zu allem etwas gesagt haben, ohne jedoch tiefer vorgedrungen zu sein.

Um auf die Differenzierung von unterschiedlichen Verhältnissen zwischen Menschen zurück zu kommen. Freundschaft ist nicht das selbe wie Partnerschaft, ist nicht das selbe wie Komplizenschaft. Ich kann einen anderen Menschen lieben, mir mit ihm ein Dach über dem Kopf teilen, zu ihm eine sehr intensive Freundschaft pflegen… Heißt das aber, dass wir automatisch über Affinität verfügen, die uns dazu befähigen könnte ein gemeinsames Projekt zu realisieren? Dass wir über genug Überschneidungen verfügen, um subversive Aktivitäten zu organisieren? Nein, das heißt es nicht zwangsläufig! Ich finde auch, dass du zwischen „Freundi*nnenschaften, Kompliz*innenschaften und Partner*innenschaften“ die du alle im selben Atemzug nennst, sehr große Unterschiede bestehen können.

Diese Beziehungen sind nicht alle dasselbe! Ich weiß nicht ob ich daraus folgern kann, dass du hier keine Differenzierungen erkennen willst? Da du diese Beziehungen und was sie für dich genau bedeuten nicht ausformuliert hast, kann ich auch nicht genauer auf diese einzelnen Unterschiedlichkeiten eingehen. Ich halte aber eine Vermischung all dieser Verhältnisse für äußerst fatal, vor allem wenn es um die Frage der Affinität im Zusammenhang mit anarchistischen Kämpfen geht. Und die Entwicklung von Affinitäten ist meiner Meinung eine Aktivität, die wir als AnarchistInnen viel zu sehr vernachlässigen.

Dein Begriff von Toleranz scheint mir etwas zu romantisch zu sein. Denn Verhältnisse ändern sich, Freundschaften gehen auch mal auseinander, genauso wie andere zwischenmenschliche Beziehungen. So ist das Leben, nichts ist von Dauer und dem ständigen Prozessen von Geburt und Tod unterworfen. Wenn ich einen Konflikt mit einer Person habe die mir nahe steht, versuche ich natürlich bis zu einem gewissen Grad diesen auszutragen. Wenn wir ehrlich mit uns selbst und anderen sind, müssen wir diese Gegensätzlichkeiten bis zu einem gewissen Grad ausleben, auch wenn dieses Vorgehen vieles ‚vergiften‘ kann, wie du ja auch geschrieben hast.

Aber wir verfügen auch über etwas, das sich Empathie nennt. Wenn ich mich in anderen wiedererkenne. Wenn ich die Schmerzen, die Ängste, die Wut und die Verzweiflung im anderen wiedererkenne, so werde ich versuchen darauf einzugehen. Vielleicht werde ich versuchen einen Kompromiss zu machen. Es kann sein, dass mir meine eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten aufgezeigt werden und ich mir diese eingestehe und Konsequenzen daraus ziehe. Manchmal bedeutet es aber auch das Ende eines Verhältnisses, das so nicht mehr möglich war aufrecht zu erhalten. Aber wovon ich hier spreche, ist Empathie und nicht Toleranz. Niemals würde ich Freundschaften, Partnerschaften, Komplizenschaften oder die Affinität zwischen KameradInnen auf Toleranz begründen. Also interpretiere diese Nachsicht, die ich mit anderen habe, wenn sie nicht so sind wie ich es gerne hätte nicht als Toleranz. Für mich ist das eine wichtige Unterscheidung! Diese Sache habe ich im Text übrigens auch kurz angesprochen: Wenn ich sage, dass ich gegen dieses hohle austauschbare und beliebig aufhebbare Konzept von Toleranz bin, so bedeutet das nicht, dass ich keine ethischen Ansprüche habe, denn diese habe ich sehr wohl. Und sie haben eine wichtige Bedeutung für alle meine Entscheidungsfindungen, wie ich mich mit der Welt in der ich lebe konfrontiere und auseinandersetze.“

Wenn ich also meine zwischenmenschlichen Interaktionen auf Toleranz aufbauen würde, was wäre das für eine Beziehung, in der ich andere ‚toleriere‘? Um noch einmal auf die Herleitung des Begriffes der Toleranz (lat. ‚erleiden‘, ‚erdulden‘) zurückzukommen, um daran zu erinnern von welcher Bedeutung hier gesprochen wird. Also was ist das jetzt für eine Beziehung oder Verhältnis zu anderen Menschen, egal ob eine Liebesbeziehung, eine Freundschaft oder eine Gruppe von anarchistischen KameradInnen, wenn ich innerhalb dieser ständig erleide und erdulde?

Ich für meinen Teil will nicht ständig erleiden und erdulden, was ich nicht erleiden und erdulden will. Vielleicht bin ich dafür nicht genug Christ, dass ich so etwas andauernd in Kauf nehmen will. Deshalb will ich meine Beziehungen auf einer ehrlichen und kritischen Basis errichten.