Vom wilden Streik zur generalisierten Selbstverwaltung

1

Haben Sie wenigstens ein einziges Mal den Wunsch gehabt, zu spät zur Arbeit zu kommen oder früher aufzuhören?

Wenn ja, haben Sie begriffen,

a) daß die Arbeitszeit doppelt zählt, denn sie ist doppelt verlorene Zeit:

• als Zeit, die man besser für die Liebe benutzt, für Träumereien, für Vergnügen und Leidenschaften; als Zeit, über die man frei verfügen könnte

• als Zeit des körperlichen und nervlichen Verschleißes.

b) daß die Arbeitszeit den weitaus größten Teil des Lebens vereinnahmt, da sie auch die „frei“ genannte Zeit bestimmt, die Zeit des Schlafes, der Ortsveränderung, die Essens- und Erholungszeiten. Sie erstreckt sich somit auf die Gesamtheit des täglichen Lebens eines jeden von uns, will es auf eine Folge von Orten und Augenblicken reduzieren, denen dieselbe leere Wiederholung gemeinsam ist, dasselbe immer größer werdende Fehlen wahren Lebens.

c) daß die Zeit der Zwangsarbeit eine Ware ist. Überall, wo es Waren gibt, gibt es Zwangsarbeit, und fast alle Tätigkeiten sind allmählich mit erzwungener Arbeit verbunden: wir produzieren, konsumieren, essen, schlafen für einen Boß, einen Chef , für den Staat, für das System der generalisierten Ware.

d) daß mehr arbeiten weniger leben heißt. Und bewußt oder unbewußt kämpfen Sie bereits für eine Gesellschaft, die jedem das Recht garantiert, selber über Raum und Zeit zu verfügen, tagtäglich sein Leben so zu konstruieren, wie es ihm gefällt.

2

Haben Sie wenigstens ein einziges Mal den Wunsch gehabt, nicht mehr zu arbeiten (ohne die anderen für sich arbeiten zu lassen)?

Wenn ja, haben Sie begriffen,

a) daß die Zwangsarbeit selbst dann, wenn sie nützliche Güter produzieren würde, wie Kleidung, Nahrungsmittel, Technik, Komfort unterdrückend und unmenschlich bleiben würde, denn:

• der Arbeiter könnte auch dann noch nicht über sein Produkt verfügen und müßte sich auch weiterhin den Gesetzen der Jagd nach Macht und Gewinn beugen;

• der Arbeiter würde immer noch für die Arbeit das Zehnfache der Zeit aufwenden, die bei einer attraktiven Organisation der Kreativität erforderlich wäre, die allen hundertmal mehr Güter zur Verfügung stellen könnte.

b) daß, auch wenn man uns vom Gegenteil überzeugen möchte, die Zwangsarbeit im überall herrschenden Warensystem nicht die Herstellung von Gütern bezweckt, die für alle angenehm und nützlich sind; daß sie vielmehr die Herstellung von Waren bezweckt. Die Waren sollen ganz unabhängig davon, ob sie nützlichen, unnützen oder schädlichen Zwecken dienen, den Profit und die Macht der herrschenden Klasse erhalten. In einem solchen System arbeitet jeder für nichts und wieder nichts und ist sich dessen mehr und mehr bewußt.

c) daß die Zwangsarbeit durch Anhäufung und Erneuerung von Waren die Macht der Unternehmer, Bürokraten, Chefs, Ideologen verstärkt. Sie wird dadurch für alle Arbeiter widerwärtig. Durch jede Arbeitseinstellung können wir wieder wir selbst werden und die herausfordern, die uns daran hindern.

d) daß die Zwangsarbeit nichts als Waren produziert. Aber zu jeder Ware gehört eine Lüge, die sie repräsentiert. Die Zwangsarbeit produziert somit Lügen, eine Welt von auf der Lüge beruhenden Vorstellungen, eine umgekehrte Welt, in der das Bild die Wirklichkeit ersetzt. In diesem spektakulären Warensystem produziert die Zwangsarbeit in Bezug auf sich selbst vor allem diese beiden Lügen:

• erstens die, daß die Arbeit nützlich und notwendig sei und daß es im Interesse aller liege zu arbeiten;

• und zweitens die, daß die Arbeiter unfähig seien, sich von der Arbeit und dem Lohnsystem zu emanzipieren, daß sie nicht in der Lage seien, eine radikal neue Gesellschaft aufzubauen, die sich auf eine kollektive und attraktive Kreation und auf die generalisierte Selbstverwaltung gründet.

Und bewußt oder unbewußt kämpfen Sie bereits für eine Gesellschaft, in der die Zwangsarbeit einer kollektiven, von den Wünschen eines jeden geleiteten Kreativität und der unentgeltlichen Verteilung der für die Konstruktion des täglichen Lebens erforderlichen Güter weicht. Das Ende der Zwangsarbeit bedeutet das Ende eines Systems, das vom Profit, der hierarchisierten Macht und der generellen Lüge beherrscht wird. Es bedeutet das Ende des spektakulären Warensystems und den Beginn der globalen Veränderung sämtlicher Tätigkeiten. Die Suche nach der Harmonie der endlich befreiten und anerkannten Leidenschaften wird die Jagd nach Geld und einem Stückchen Macht ablösen.

3

Ist es Ihnen schon öfter passiert, daß Sie außerhalb des Arbeitsplatzes den gleichen Widerwillen, den gleichen Überdruß empfunden haben wie in der Fabrik?

Wenn ja, haben Sie begriffen,

a) daß die Fabrik überall ist. Sie ist auch der Morgen, der Zug, der Wagen, die zerstörte Landschaft, die Maschine, die Chefs, das Zuhause, die Zeitungen, die Familie, die Gewerkschaften, die Straße, das Einkaufen, die Bilder, der Lohn, das Fernsehen, die Sprache, der Urlaub, die Schule, die Hausarbeit, die Langeweile, das Gefängnis, das Krankenhaus, die Nacht. Sie ist die Gewöhnung an sich ständig wiederholende Gesten, an verdrängte Leidenschaften, die nur ersatzweise erlebt werden, vermittels dazwischengeschalteter Bilder.

b) daß jede auf das Überleben reduzierte Tätigkeit Zwangsarbeit ist; und jede Zwangsarbeit das Produkt und den Produzenten zu einem Gegenstand des Überlebens, zu einer Ware macht.

c) daß die universelle Fabrik überall abgelehnt wird, denn überall bei den Proletariern verbreiten sich Sabotage und Entwendung, durch die sie sich das Vergnügen verschaffen, spazieren zu gehen, sich zu lieben, sich zu treffen, miteinander zu sprechen, zu essen und zu trinken, zu träumen, die Revolution des täglichen Lebens vorzubereiten, ohne sich dabei irgendetwas von den Freuden entgehen zu lassen, nicht völlig entfremdet zu sein.

Und bewußt oder unbewußt kämpfen Sie bereits für eine Gesellschaft, in der die Leidenschaften alles, die Langeweile und die Arbeit dagegen nichts sind. Das Überleben hat uns bis heute am Leben gehindert; von jetzt an geht es um die Umkehrung der verkehrten Welt; um die Verstärkung der echten Momente, die im spektakulären Warensystem heimlich bleiben müssen oder der Verfälschung erliegen: die echten Momente wirklichen Glücks, schrankenlosen Vergnügens, der Leidenschaft.

[aus: Ratgeb, Vom Wilden Streik zur generalisierten Selbstverwaltung(1975). Kapitel 2: Die Gesellschaft des Überlebens, Punkt 1-3.]